Die gemeine Napfschnecke (Patella vulgata) findet man vor allem in felsigen Küstenregionen. Mit ihrem kräftigen Fußmuskel saugt sie sich an Felsen fest und raspelt dort den Algenbewuchs mit ihrer Radula – einer Art Zunge voller mikroskopisch kleiner Zähne – ab. Für solch eine extreme Belastung müssen diese Zähne eine immens hohe Härte und Verschleißbeständigkeit besitzen. Und tatsächlich wurde bereits in 2015 von Forschern der Universität Portsmouth berichtet, dass die Napfschneckenzähne eine Festigkeit von bis zu 6,5 Gigapascal besitzen und damit Spinnenseide als das stärkste biologische Material vom Thron stoßen.
Internationale Zusammenarbeit
Materialwissenschaftler der Montanuniversität Leoben sind nun in einer internationalen Kollaboration mit Forschern aus Südkorea (Sungkyunkwan University), der USA (Brown University) und Deutschland (Bergische Universität Wuppertal) dem Grund für diese außerordentlich hohe Festigkeit der Napfschneckenzähne nachgegangen.
Prof. Sang Ho Oh (Sungkyunkwan University) trat an Prof. Dr. Daniel Kiener und Dr. Michael Wurmshuber vom Lehrstuhl für Materialphysik der Montanuniversität Leoben wegen ihrer mikromechanischen Expertise heran. Durch hochspezialisierte Experimente in Form von Nanohärtemessungen und miniaturisierten Druckversuchen im Elektronenmikroskop konnte, zusammen mit mikrostrukturellen Untersuchungen und Computersimulationen der anderen beteiligten Kollaborationspartner, der Grund für die einzigartigen mechanischen Eigenschaften enthüllt werden. Die Erkenntnisse aus dieser Arbeit wurden nun in der renommierten Fachzeitschrift Science Advances veröffentlicht.
Keramische Nanostäbchen sind das Geheimnis
Die Mikrostruktur der Napfschneckenzähne besteht aus keramischen Nanostäbchen (Nanorods), eingebettet in einer Matrix aus amorphem Siliziumoxid. Vor allem in dem Bereich des Zahns, der beim Schabvorgang zuerst zum Einsatz kommt, kann man beobachten, dass diese Nanorods in Bündel angeordnet sind, welche bei Belastung eine Rotationsbewegung ausführen. Das führt dazu, dass sich das Material auxetisch verhält: Konventionelle Materialien werden, wenn man in einer Richtung an ihnen zieht, in der Querrichtung verjüngt. Bei einem auxetischen Material hingegen würde, wenn man in Längsrichtung zieht, auch die Querrichtung größer werden, es besitzt also eine negative Querkontraktions- oder Poissonzahl. Umgekehrt schrumpft ein auxetisches Material in Querrichtung, wenn man in Längsrichtung darauf drückt. Ein solches unkonventionelles Materialverhalten führt auch zu einem höheren Eindruckwiderstand. „Im Kontext der Napfschnecke bedeutet das, dass die Zähne beim Abraspeln der Algen vom Felsen eine extrem hohe Härte und Verschleißbeständigkeit zeigen“, erläutert Wurmshuber.
In der veröffentlichten Arbeit konnten nun sowohl diese Rotationsbewegung der Nanorods im Elektronenmikroskop als auch eine negative Poissonzahl in miniaturisierten Druckversuchen nachgewiesen werden. Simulationsmodelle komplementieren die experimentellen Ergebnisse und zeigen die verschiedenen Rotationsmodi auf, welche zur Auxetizität des Zahns führen. „Diese Erkenntnisse sollen bei der zukünftigen Entwicklung von neuartigen Materialien mit erhöhter Härte und Verschleißbeständigkeit helfen“, unterstreicht Kiener. Weitere kollaborative Forschungsarbeiten an diesem faszinierenden Biomaterial sind am Lehrstuhl für Materialphysik geplant.
Link zur Veröffentlichung: www.science.org/doi/10.1126/sciadv.add4644
Weitere Informationen
Univ.-Prof. Dr. Daniel Kiener
Lehrstuhl für Materialphysik
Department Werkstoffwissenschaften, Montanuniversität Leoben
E-Mail: daniel.kiener(at)unileoben.ac.at
Tel.: +43 3842 804 412
Dr. Michael Wurmshuber
Lehrstuhl für Materialphysik
Department Werkstoffwissenschaften, Montanuniversität Leoben
E-Mail: michael.wurmshuber(at)unileoben.ac.at
Tel.:+43 3842 804 206